Die Hungerkatastrophe
Allgemeine Informationen und thematische Zielsetzung
Nach Schätzungen des Roten Kreuzes fielen im Zeitraum zwischen 1941-1943 ca. 250.000 Menschen direkt oder indirekt der Hungersnot in Griechenland zum Opfer.* Die Zahlen erschüttern und sind gleichzeitig wichtige Indizien für die humanitäre Katastrophe, die das Land während der deutschen Besatzungsherrschaft erleben musste. Die verheerende Hungersnot und ihre Folgen sind in Deutschland kaum bekannt. Daher ist es das Ziel der Unterrichtseinheit diese Thematik für deutsche Schulen didaktisch, methodisch und inhaltlich ansprechend aufzuarbeiten, die unterschiedlichen Ursachen und Faktoren der Katastrophe zu untersuchen und die Frage nach der deutschen Verantwortung für das schreckliche Ausmaß der Hungersnot zu ergründen.
* Mazower, M: Griechenland unter Hitler. Das Leben während der deutschen Besatzung 1941-1944, Frankfurt am Main, Fischer Verlag, 2016, S.66.
Historische Einordnung
Schon vor der Einnahme Griechenlands durch die deutsche Wehrmacht im Frühjahr 1941 war die Versorgungssituation der Bevölkerung angespannt. Bedingt durch den Kriegsbeginn 1939 gingen Griechenland wichtige Getreideimporte verloren. Diese Situation spitzte sich mit dem Ausbruch des Griechisch-Italienischen Krieges Ende Oktober 1941 noch zu. Im April 1941 war der Mangel an Lebensmitteln schon weit verbreitet. Missernten und die Abtretung der nördlichen Landesteile Griechenlands an Bulgarien im Zuge der deutschen Eroberung Griechenlands im Frühjahr 1941 und der Aufteilung des Landes in drei Besatzungszonen (deutsche, bulgarische und italienische Besatzungszonen) verschärften die Problematik. Durch die von den Briten verhängte Seeblockade wurde Griechenland von allen wichtigen Einfuhren abgeschnitten. Die systematische Plünderung und wirtschaftliche Ausbeutung des Landes durch die deutsche Besatzung im Zeitraum von 1941 bis 1944 führte zum endgültigen Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung und der Wirtschaft.
Die Bedeutung der Oral History
In der Unterrichtseinheit kommen die griechische Zeitzeugin Dimitra Roubessi und der griechische Zeitzeuge Minas Sabetai zu Wort, die die Hungersnot in unterschiedlichen Regionen Griechenlands als Kind und Jugendliche/-r miterleben mussten. Ihre Erinnerungen sind detailliert, traumatisch und erschütternd. Frau Roubessi besitzt ein fast fotografisches Gedächtnis und erinnert sich an viele Einzelheiten. Besonders erwähnenswert ist die Erinnerung der Zeitzeugin an die Saltadori, die kleinen Widerstandskämpfer. Es waren Kinder, die sich in Gruppen zusammenschlossen, um dem Unrechtssystem zu trotzen. Die schrecklichen Erlebnisse haben sich tief in das Gedächtnis der Zeitzeugin eingegraben und ergänzen die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung über das Ausmaß der Hungersnot. Die Zeitzeugin Dimitra Roubessi begegnet uns auch in der Unterrichtseinheit Kindheit unter deutscher Besatzung. Herr Sabetai ist in doppelter Weise interessant: Aufgrund seines familiären und religiösen Hintergrunds schildert er besonders die Lage der jüdischen Gemeinde in seiner Heimatstadt Volos vor und während der deutschen Besatzung. Zentrale Themen in seinen Schilderungen sind daher neben der Hungersnot die Erfahrung von Vorurteilen, Stereotypen, Ausgrenzung, Diskriminierung sowie eines eliminierenden Antisemitismus durch die Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen, die an der jüdischen Bevölkerung in Volos durch die deutschen Besatzer praktiziert wurden. Ausgrenzung und Diskriminierung erlebte er am eigenen Leib. Die lebensgeschichtlichen Interviews der Zeitzeugin/des Zeitzeugen, ihre Erlebnisse, Ängste, Wünsche, Hoffnungen, persönlichen Entscheidungssituationen, in die sie die Leser/-innen und Zuseher/-innen miteinbeziehen, ermöglichen Empathie und Identifikation. Die Schüler/-innen treten mit der Zeitzeugin/dem Zeitzeugen in Dialog, erlernen Geschichte aus persönlich erlebter Erfahrung. Mimik und Gestik der Zeitzeugin/des Zeitzeugen im Video unterstreichen ihre Persönlichkeit und geben Auskunft über deren emotionale Situation, die für das Gesamtverständnis der Erzählungen von Bedeutung ist.
Zur Intention
Intention dieser Lerneinheit ist es unter anderem, deutschen Schülerinnen/Schülern dieses in deutschen Schulbüchern und Lehrplänen völlig unbekannte Thema in digitaler Wissensvermittlung durch die Auseinandersetzung mit griechischen Zeitzeuginnen/Zeitzeugen zugänglich zu machen. Dass die nationalsozialistische Besatzungspolitik in Griechenland ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur ist, wurde lange Zeit aus dem offiziellen Erinnern an den Nationalsozialismus in Deutschland ausgeblendet. Die Bildungsplattform ermöglicht in didaktisch ansprechender und anschaulicher Weise eine Annäherung an dieses besondere Thema, mit dem Ziel, den historischen Kenntnisstand über die deutsche Okkupation in Griechenland zu heben, um auf diesem Weg Verständnis, Toleranz, Solidarität und Respekt, wichtige Grundpfeiler einer Zivilgesellschaft, zu fördern.
Zum didaktischen Konzept und Aufbau der Unterrichtseinheit
Die Arbeitsaufgaben dienen der strukturierten Auseinandersetzung mit den lebensgeschichtlichen Interviews unter unterschiedlichen Aspekten und Anforderungsniveaus, die im didaktischen Kommentar ausgewiesen sind. Der didaktische Aufbau der Fragestellungen erfolgt dabei nach dem Schema: Kennenlernen, Vertiefen, Diskutieren und weiterführenden Aufgaben.
Der Fragenkomplex Kennenlernen nimmt auf die Schilderungen und Erlebnisse der Zeitzeugin/des Zeitzeugen direkt Bezug und intendiert eine erste Begegnung mit deren Persönlichkeit sowie ein intellektuelles und emotionales Erfassen und Verstehen des Erzählten durch die Schüler/-innen. Das Kennenlernen ist Voraussetzung für alle weiteren vertiefenden Fragestellungen.
In der Vertiefungsphase steht den Schülerinnen/Schülern eine Bandbreite unterschiedlicher Aufgaben bzw. Aufgabenformate mit jeweils unterschiedlichen Anforderungsbereichen zur Verfügung. Um der besonderen Lebensgeschichte von Herrn Sabetai gerecht zu werden, beziehen sich die Aufgaben in der Vertiefungsphase, im Unterschied zu denen bei Frau Roubessi, nicht nur auf das Kernthema Hunger, sondern auch auf weitere zentrale Erfahrungen des Zeitzeugen, wie Vorurteile, Stereotype, Ausgrenzung und Diskriminierung. Dabei wurde die thematische Aufarbeitung durch die lebensgeschichtlichen Interviews historisch kontextualisiert. So erhalten die Schüler/-innen einen umfassenden Einblick in die geschichtlichen Ereignisse Griechenlands im Zweiten Weltkrieg. Die Schüler/-innen erkennen, dass historische Darstellungen und Analysen die Schilderungen der Zeitzeugin/des Zeitzeugen in den historischen Kontext einordnen und diese daher unabdingbar sind.
Die Aktualität der Problematik Ausgrenzung und Diskriminierung stellt direkte Bezüge zur Gegenwart der Schüler/-innen her und fordert sie zu einer besonderen Form der Reflexion und Auseinandersetzung auf. Hierbei sollten vor allem die Handlungs- und Urteilskompetenzen der Schüler/-innen gefördert werden. Die Aufgabenformate regen zu einem interaktiven und handlungsorientierten Unterricht an und sollen die Schüler/-innen für Unrechtsstrukturen, verbale Gewalt, Ungleichheit und Ungerechtigkeiten im schulischen Alltag und ihrem sozialen Umfeld sensibilisieren. Die Schüler/-innen brauchen bei diesen Aufgabenstellungen die Begleitung durch die Fachlehrer/-innen (s. didaktische Kommentare).
Die weiterführende thematische Vertiefung fokussiert auf das zentrale Thema Hungerkatastrophe. Teilweise greifen die Aufgaben auf Erkenntnisse oder Ergebnisse der vorangegangenen Aufgaben zurück und sollten daher chronologisch bearbeitet werden (s. didaktischer Kommentar). Die historische Forschungsstation untersucht die Problematik der großen Hungersnot unter folgenden Aspekten: Ursachen, Folgen, Ausmaß, Sichtweise bzw. Praxis der deutschen Besatzungspolitik, Verantwortung und Schuld der Besatzer. Die Aufgaben sind teilweise anspruchsvoll und komplex, da Schüler/-innen mit historischen Originalquellen arbeiten. Grundsätzlich bietet aber auch die historische Forschungsstation eine Vielfalt unterschiedlicher Aufgaben, die alle drei Anforderungsbereiche abdecken und die kritisch-eigenständige Auseinandersetzung sowie das historische Urteilsvermögen der Schüler/-innen fördern wollen.
Somit zielt die Lerneinheit auf eine besondere Entwicklung unterschiedlicher Kompetenzen (Sach-, Methoden- und Sozialkompetenz) von Schülerinnen/Schülern durch die Oral History ab.